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Ursula Berg in „Blütenträume für die Seele“
DER TULPENSTRAUSS
Lange schon hatte ich mir für meinen kleinen Vorgarten eine schöne Ecke mit Tulpen gewünscht. Dieses Jahr war es endlich soweit. Ich hatte die Zwiebeln sorgfältig ausgesucht, und im Frühjahr wuchsen die Tulpen so prächtig, als wollten sie XXL werden. Ich war begeistert und erfreute mich jeden Tag an dieser bunten Pracht aus Scharlachrot, Apricotgelb, Lachsrosa, Braunrot und Schneeweiß.
Das blieb so bis Samstag, den 11. Mai.
Am Sonntag, den 12. Mai, sah ich das Entsetzliche. Meine Wut war grenzenlos. Ich konnte es einfach nicht fassen. Das alles konnte doch nicht wahr sein. Ich starrte auf mein Tulpenbeet. Irgendjemand hatte sämtliche Tulpen fein säuberlich abgeschnitten. Keine einzige Blume war übrig. Ich jammerte und schimpfte den ganzen Tag und verdarb nicht nur mir, sondern auch meiner Familie den Tag – es war Muttertag.
Zum Glück kannte ich den Missetäter nicht – bis Dienstagabend. Es klingelte an der Tür und ein Kerl wie ein tätowierter Kleiderschrank stand vor mir. Ich erschrak heftig. Mit unerwartet leiser Stimme sagte er: „Ich war der Missetäter!“ Er deutete auf das Blumenbeet: „Ich bitte um Entschuldigung.“
Ich fühlte, wie mein angestauter Frust explodieren wollte. Doch bevor ich Luft holen konnte, überfiel er mich mit einem Wortschwall: „Sie haben mir den Tag gerettet, Muttchen. Ich kam in der Samstagnacht von einer Bikertour nach Hause und erfuhr, dass meine Mutter überraschend ins Krankenhaus gekommen war. Ich wollte sie frühmorgens besuchen. Aber es war Muttertag, und ich hatte keine Blumen. Da fiel mir ein, dass ich in ihrem Garten wunderschöne Tulpen gesehen hatte. Das war meine Rettung. Meine Mutter hat sich riesig gefreut, als ich mit den Blumen ankam. Sie müssen wissen, dass ich kein Sohn bin, der immer an den Muttertag denkt.“
Da stand er nun vor mir, dieser Riesenkerl, mit hängenden Armen, ergeben meine Strafpredigt erwartend. Doch irgendwie fiel es mir plötzlich schwer, einen Sohn, der seiner Mutter Blumen ins Krankenhaus gebracht hatte, lautstark zu beschimpfen.
„Ich habe eine ziemliche Wut auf Sie“, gestand ich. „Wie wollen Sie das wieder gutmachen?“
„Ich schlage vor, als Entschädigung helfe ich Ihnen ein paar Stunden im Garten. Einverstanden?“
Ich war einverstanden, und Harry, wie er sich nannte, war eine große und sehr geschickte Hilfe. Er kam viel öfter als erwartet. Vielleicht auch, weil er meinen Erdbeerkuchen mochte.
Inzwischen überlegen meine Nachbarn bereits, ob sie nicht im nächsten Jahr auch Tulpen in die Vorgärten pflanzen.
In diesem Jahr ist Muttertag zwar schon am 10. Mai, aber der kleinen Geschichte tut es keinen Abbruch, finde ich.