Zu Hause fällt vielen Menschen die Decke auf den Kopf. Weihnachten ist gefährlich. Es ist so, als wenn die armen Seelen längst bemerkt hätten, daß etwas nicht stimmt im Staate Deutschland! Als wenn sie vor einer unangenehmen Wahrheit weglaufen möchten und das Flugzeug nehmen. Weit, weit weg, nur nicht nach Hause! Das Ganze ein wenig aufgegossen und vernebelt mit Rum Baccardi – bis alles vorbei ist.
Aber noch ist Weihnachten das Fest, das unserer armen Seele Jahr für Jahr den Weg nach Hause weist. Es liegt da am Jahresende des christlichen Kalenders wie ein leuchtender Kieselstein aus dem Märchen von Hänsel und Gretel. Als Wegweiser nach Hause. Es liegt auf unserem Lebensweg – alle Jahre wieder – und will uns helfen, das Ziel des Lebens nicht zu verpassen. Ein Kieselstein oder ein Stern! Er will uns Orientierung und Richtung geben. Das Fest hat die magische Kraft, uns den Weg zum Ursprung zu zeigen.
Wir kommen ja auf diese Welt jenseits aller Materie, von dem Ort, den wir den Himmel nennen. Jenseits aller Trauer, jenseits des Leids, jenseits auch von Gut und Böse. Wir gehen auch wieder auf dieses Zu Hause zu. Das Leben ist eine Rückreise. Wer wußte das besser als die Alten unter uns, denen mit den Jahren die eigenen Kindertage immer leuchtender werden. Das Langzeitgedächtnis, das in der Kindheit wurzelt, überflügelt mit den Jahren das Kurzzeitgedächtnis. Der Geruch aus Tannennadeln, Schnee, Marzipan, Spekulatius und Vater und Mutter bleibt ein Leben lang in unserer Nase. Warum ist das so? Dem Körper bringt das gar nichts. Er würde vom guten Kurzzeitgedächtnis eher profitieren. Man wüßte, wo die Brille liegt und wie der neue Nachbar heißt. Vom Langzeitgedächtnis aber profitiert ausschließlich die Seele. Sie soll nie vergessen aus welchem Stall man kommt, an keinem Ort und zu keiner Zeit.
Je älter wir werden, um so mehr kommen wir herum. Wir waren in der Fremde, und sind es oft noch. Fremde ist dabei keine Frage des Alters. Unsere Seele fühlt sich hier nicht so sehr heimisch. Sie ist immer noch unruhig. Sie hat keine bleibenden halt. Und solange der Weihnachtsduft noch der Seele lebendig ist, solange ist die Heimat nicht erreicht. Etwas zieht an unseren Seelen und Herzen und bereitet uns dort einen süßen Schmerz. Eine Art Liebeskummer. Eine Art Heimweh. Es ist ein innerer Drang, aus der Fremde endlich nach Hause zu kommen. Lieder von weit her klingen an unser Ohr und wir finden es, je älter wir werden, gar nicht kitschig. Mitten in der Weihnachtsnacht zieht es uns nach draußen. Den Mantel über die Schulter gehängt und kurz vor dem Schlafengehen in der Heiligen Nacht einen Gruß an das unendliche Sternenheer geschickt – ein Gruß zu unserem Ursprung.
Weihnachten zeigt den Weg nach Hause. Es ist der Kreis des Lebens, der sich da schließt. Und wer ihn finden will, ist vielleicht gut beraten, ein paar Weihnachtsfeste seines Lebens in seinem Inneren aufsteigen zu lassen, um zu sehen, an was er hängt und was da so zieht und zerrt. Und zu wem er gehört und immer gehören wird, um dort Frieden zu finden. Nur wenn wir zu etwas Großem gehören und zustimmen, sind wir zu Hause. Allein ist niemand zu Hause, weil zu Hause niemand allein ist. Für mich und in meinen frühen Erinnerungen ist Weihnachten das Fest der Vollständigkeit. Wir waren und, sind und bleiben eine große Familie. Erst Recht nach unserer Hochzeit! Gut, ich weiß auch, daß wir die Geburt Jesu feiern. Aber was meiner kindlichen Seele zudem geblieben ist, ist das Gefühl, daß wir an diesem Heiligen Abend und in dieser Nacht alle beieinander waren. Weihnachten ist das Fest der Vollständigkeit der Familie.
rolfernst